Ko-evolution von Wirtschaft und Kunst
In modernen Gesellschaften haben sich spezifische Kommunikationszusammenhänge als unterschiedlich codierte Wertsysteme ausdifferenziert. Kommunikation in Wirtschaft und Unternehmen und Kommunikation im Kunstbetrieb sind besonders ausgeprägte Beispiele. Die Spezialisierung erleichtert die interne Verständigung, sie fördert damit die Entstehung lokaler Geschäftskulturen und die Entstehung von Kunstgenres, die die Gesamtheit der Semantiken und Praktiken einer Gesellschaft reflektieren und damit, in ihrer Gesamtheit, zu „Kunstkultur“ werden. Dabei kommt es, vermittelt durch breitere kulturelle Konfigurationen, zu Irritationen zwischen den Wertsystemen. Gerade dadurch werden Inventionen in einem der Systeme im jeweils anderen System zu Quellen von Neuheit. So verläuft die Evolution dieser beiden Teilsysteme der Gesellschaft in gegenseitiger Abhängigkeit oder Ko-evolution.
Um die These der gegenseitigen Quelle von Neuheit zu überprüfen, werden im Rahmen des Projekts historische Fallstudien durchgeführt, die systematisch unterschiedliche Varianten der Ko-evolution untersuchen. Der zeitliche Horizont reicht von 1400 bis 2010, also von den Anfängen der Renaissance bis zur Gegenwart, auch wenn die Teilstudien meist kürzere Horizonte aufweisen. Der Fokus liegt auf der Entwicklung der europäischen Gesellschaft, auch wenn in jüngeren Beispielen außereuropäische Werke eine Rolle spielen. Dabei wird Kunst für die Zwecke der empirischen Recherche auf Bildkultur beschränkt.
In den einzelnen Fallstudien wird nach Evidenz für die Auswirkung von Veränderungen im Ausgangssystem im Zielsystem gesucht, um die „Gelingensbedingungen“ evolutorischer Veränderung näher bestimmen zu können. Als Material dient kunsthistorische und wirtschaftshistorische Literatur. Studie 1 untersucht die Auswirkungen der zentralperspektivischen Raumdarstellung auf Produktion und Nachfrage in der europäischen Wirtschaft vor 1700. Auch Studie 2 konzipiert Kunst als Umwelt der Wirtschaft, untersucht aber die Auswirkung eines umfangreichen Bildprogramms auf das Konsumverhalten im England des 18. Jahrhunderts. Studie 3 richtet sich auf die Finanzwirtschaft und untersucht die Auswirkungen der Anverwandlung einer allegorischen Figur auf die Kreditwürdigkeit von Banknoten. Studie 4 untersucht die Auswirkung vorhandener Kunstwerke auf verschiedene Branchen der Kreativwirtschaft. Studie 5 wählt die umgekehrte Zuordnung und untersucht, inwiefern in ausgewählten, über sechs Jahrhunderte verteilten Werken, wirtschaftliche Spannungen als Quelle von künstlerisch relevanten Bilderfindungen identifiziert werden können. Studie 6 verfolgt die Verwenung von Kunstformen für Güter der Kreativindustrien am Beispiel von Disneys „Snowwhite and the Seven Dwarfs“, Mies van der Rohes Seagram Building and Reproduktionen von Andy Warhols „Flowers“. Inzwischen sind fünf der Fallstudien abgeschlossen, zwei davon sind publiziert.