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Für eine Neuaufstellung der Sozialwissenschaften in Zeiten der Krise

Ein Beitrag von Steffen Huck und Michael Zürn

Über ein Jahr Covid-19, Deutschland inzwischen in der dritten Welle und noch immer kein Plan in Sicht. Derweil wird in Ländern, die sich bislang mit der Krise noch schwerer als Deutschland taten, um ein Vielfaches schneller geimpft, allen voran im Vereinigten Königreich und den USA. Einen Vergleich mit Israel mag man erst gar nicht anstellen.

Egal, welche Statistiken man sich anschaut, Fallzahlen oder Tote, Lockdowns oder Impfungen: Es gibt keine einfachen Formeln, die die teils starken Länderunterschiede erklären würden. Insellage, Demokratie, Durchschnittseinkommen – nichts erfasst die Divergenzen auf befriedigende Art und Weise, und herkömmlich akzeptierte Ideen, wie die, dass es gerade in Krisenfällen gut wäre, transnational zu denken, werden in Frage gestellt. Brexitbefürworter jubeln jedenfalls gerade.

Die Politik schaut auf die Virologen, aber die können am Ende nur sagen, was die Parameter sind, wie sich die Seuche verbreitet in Abhängigkeit der Zahl und Art zwischenmenschlicher Kontakte. Diese Parameter sind jedoch Konstanten, sie gelten für jede einzelne Variante in Singapur wie in Deutschland und Brasilien. Unterschiede in der Ausbreitung der Seuche müssen folglich in erster Linie Gegenstand der Sozialwissenschaften sein, deren Aufgabe es schließlich ist, das Miteinander der Menschen zu verstehen und die Art und Weise, wie sie in Kontakt zu einander treten.

Im Fokus auf das Kleine, auf die Mikroebene, gibt es inzwischen eine Vielzahl fulminant guter sozialwissenschaftlicher Studien. Als Beispiel sei hier Thiemo Fetzers exzellente Studie zur Bedeutung von Contact-Tracing genannt. Jeweils zehn nicht nachvollzogene Fälle von Covid-19 im Herbst 2020 haben in Großbritannien ein zusätzliches Todesopfer verursacht. Fetzer kann das so genau beziffern, weil es in Großbritannien zu einem Fehler bei der Abspeicherung von Daten kam, der dazu führte, dass rund 1.500 Fälle nicht nachverfolgt wurden. 

Im Großen, auf der länderübergreifenden Makroebene, gibt es hingegen wenig Verlässliches. Studien, die zum Beispiel versucht haben, die Vorteile von Grenzschließungen nachzuweisen, müssen inzwischen als überholt gelten. Grenzschließungen haben vielleicht kurzfristig geholfen, aber nicht langfristig. Andere, die die Schwächen der autoritär-populistischen Regierungen beim Pandemiemanagement beobachteten, müssen konzedieren, dass Populisten teilweise sehr schnell impfen. 

Die schlechte Performanz Deutschlands, sowohl bei den Todesfällen seit dem späten Herbst 2020 als auch bei der Impfgeschwindigkeit, ist ein Beispiel für das Versagen von Makroerklärungen. Es gibt so vieles, was für das Land sprechen würde – deshalb ist das Kopfschütteln auch so groß. In den (sozialen) Medien gibt es die, die sagen, es habe schlicht an schlechten Entscheidungen der Politik gelegen. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass ein Austausch des Personals eine Änderung bewirken könnte. 

Selbst wenn das stimmte, bliebe es eine zusätzliche Aufgabe der Sozialwissenschaften aufzuzeigen, welche Faktoren die schlechten Entscheidungen verursacht haben und welche überhaupt die ausschlaggebenden schlechten Entscheidungen waren -- und hier haben wir keine befriedigenden Antworten. Stattdessen weist der Fall Deutschland auf ein komplexes Zusammenspiel von hochgradig verrechtlichten Prozessen und einer rückständigen Digitalisierung hin, das einhergeht mit der schieren Angst vor Improvisation und mit der Schwerfälligkeit der Bürokratie. Im Sommer wurde bei geringen Fallzahlen verschlafen, die Digitalisierung des Tracking so voranzutreiben, dass die nicht nachvollzogenen Fälle minimiert hätten werden können. Verschlafen wurde gleichzeitig, die Schulen so auszustatten, dass sie einen weitgehend digitalisierten Unterricht hätten bewältigen können. Sorgfalt, Datenschutz, langsame Genehmigungsverfahren, Kompetenzstreit und anderes mehr: Ein derartiges Geflecht behäbiger Kräfte kann allenfalls durch die dreiste Kühnheit eines Helmut Schmidt, den die Gesetzeskonformität während der Sturmflut von 1962 schlicht nicht interessierte, überwunden werden, aber strukturell nutzt auch diese Beobachtung nichts. Wir haben gerade keinen Helmut Schmidt, und ein Austausch des Personals beschert ihn uns, aus reinem Mangel an Kandidatinnen und Kandidaten, auch nicht so einfach. Noch schlimmer: Es würde nicht reichen. Und am schlimmsten: Der neue Helmut Schmidt könnte nicht sicher wissen, woran es liegt, dass es nicht vorangeht, und welcher der von uns genannten Aspekte am wichtigsten ist.

Wenn wir uns für die Zukunft wappnen wollen, brauchen wir zuallererst eine Form der Sozialwissenschaften, die das Mittlere, die Mesoebene, das komplizierte Zusammenspiel von Institutionen und Werten, von Anreizen und Normen, von Bürgerbewegungen und Parteien, von Föderalismus und Presse, Einzelinteressen und lokalen Gruppen und Ideengebern, besser versteht. Es bräuchte eine problemorientierte Zusammenführung der disziplinären Kompetenzen, der verschiedenen methodischen Zugänge und der Analyseebenen, um reale Problemlagen zu verstehen. Auch wenn es disziplinär gebundene Grundlagenforschung natürlich weiterhin geben muss: Die Analyse konkreter gesellschaftlicher Analysen braucht die Vielfalt, ja die Zusammenführung der Perspektiven. Probleme halten sich nicht an disziplinäre oder methodische Grenzen.

Die allgemeine Tendenz zur Auffächerung des wissenschaftlichen Systems in Disziplinen, Teilgebiete und deren unterschiedliche Methoden waren notwendige Schritte für die Entwicklung der Sozialwissenschaften, und keinen davon wollen wir in Frage stellen. Aber wenn uns die Covid-19-Krise eines zeigt, dann dieses: dass wir schleunigst zu einer neuen Einheit der Sozialwissenschaften finden müssen, die auch in der Lage ist, schwierige Fragen nach den Unterschieden zwischen den Ländern zu verstehen und rationale Lösungen für Krisen wie diese vorzuschlagen. Andere Disziplinen kommen dafür schließlich nicht in Betracht.

1.4.2021